Wein und Prosa – Eine Weinrallye ohne Wein
Oder: „Hans Castorp, Patrick Bateman und ich“
oder „Warum keiner über Wein schreibt“
oder „Warum wir trotzdem Wein trinken sollten“
Von Marc Herold
Wein und Prosa. Tolles Thema, denkt man sich, knackt innerlich schon mit den Fingerknöcheln, legt ein neues Word-Dokument an, dreht die Musik leiser, lässt die gelesenen Bücher Revue passieren und schreibt dann erst einmal: Nichts! Bei näherem Nachdenken fällt auf, dass Wein zwar in Romanen vorkommt, aber fast immer keine Rolle spielt, und wenn er er denn vorkommt, geht es nur um Rotwein, Bordeaux, Weißwein, und nicht um einen konkreten Wein. Selbst in Thomas Manns „Zauberberg“ wird zwar oft und gern dem Wein zugesprochen, aber selbst in dem alkoholischsten Kapitel „Mynheer Peeperkorn“ wird neben, Likör, Apricot Brandy, einem „fruchtigen Schweizer“ nur Champagner von „Mumm & Co., Cordon rouge, très sec“ konkret genannt. Am ersten Abend seines Erscheines in Davos leert Hans Castorp zusammen mit seinem Vetter Ziemsen zwar noch eine Flasche Guraud Larose; er befasst sich dann aber mit so ziemlich allem, was ihn gedanklich seiner angeschmachteten Russin näherbringt oder ihm im Kampf mit dem Mystiker Naphta und dem humanistisch rationalen Settembrini nützlich erscheint.
Als der Alkohol durch die Gestalt des dionysischen Peeperkorn in das Aufmerksamkeitsfeld Castorps gerät, ist die Schlacht zwischen Ratio und Mystik geschlagen, unser „Sorgenkind des Lebens“ ist längst hoffnungslos verstrickt in ein Netz aus Sehnsucht, Projektion und melancholischen Grübeleien. Peeperkorn gelingt es in der eingangs erwähnten Szene nicht Champagner in das Blut Christi oder auch nur das Blut irgend einer anderen Gottheit zu verwandeln, sein Zauber bleibt wirkungslos, die Schar seiner Jünger zerfällt. Vielleicht können wir an dieser Szene eine Idee davon bekommen, warum Wein als Methapher oder Symbol so sparsam eingesetzt wird: Wein ruft automatisch Assoziationen an das letzte Abendmahl hervor, die christlichen Konnotationen lassen sich nicht vermeiden
.
Blickt man in die jüngere Literaturgeschichte, könnte man erwarten, dass Wein, genauer: der Genuss bestimmter, hochklassiger Weine in der Literatur eine klare Abgrenzung und einen Distinktionsgewinn der Protagonisten hervorruft, aber auch hier halten sich die Autoren sehr gerne im Ungefähren auf. Wein wird von Kachts und Stuckrad-Barres hypertrophen Schnöseln gerne getrunken, der Detailiertheitsgrad der Weinbeschreibungen liegt höchstens auf dem Niveau geldspielautomatenbewehrter Eckkneipen, in denen „Wein: Rot, Weiß, Rose“ angeboten wird.
Selbst der Urvater der Detailliertheitsfanatiker, Bret Easton Ellis, der sich durchaus zehnseitige Dialoge über die Vorzüge und Nachteile einzelner Papiersorten für Visitenkarten seines „American Psycho“ Patrick Bateman ausdenken konnte, bleibt beim Wein seltsam einseitig. Kalifornischer „Acacia“ wird ein paar mal erwähnt und wohl auch getrunken. Der Status der Bänker wird aber trotzdem von der Marke des Anzugs oder der Sonnenbrille und nicht vom Weinkeller bestimmt. Wäre man in Batemans Wohnung, könnte man sich sicher sein, dass der blutrote Weinfleck auf dem Kashmirteppich tatsächlich Blut ist.
Warum macht Weintrinken dann also scheinbar nur in „echt“ Spaß? Warum haftet dem Weintrinken in der Literatur (und oft auch der Literatur über Wein) eine Wirkung an, als sei dieses Getränk „von des Gedankens Blässe angekränkelt“? (Einruf von der Seite: „In der englischen Unterhaltungsliteratur wird aber viel mehr mit Spass gesoffen. Auch von Frauen.“) Man könnte auch anders fragen: Was erzeugt den Spaß beim Weintrinken? Ist es nur die Enthemmung? Da wäre dann wieder egal, was man trinkt. Also noch genauer: Was erzeugt den Spaß beim trinken spezieller Weine? Neben dem rein geschmacklichen Genuss ist es hier sicher der Dialog über den Wein, durch die Unterhaltung über Wein tauschen sich Menschen auch über ganz andere Inhalte aus. Wir finden durch den Austausch über Wein zu unseren Vorlieben und auch zu den Vorlieben unserer Mittrinker, Dieses katalytische Element des speziellen Weines, zum Kern einer Figur vorzudringen kennen die Autoren gut: Sie erschaffen durch ihre Kreativität selbst diese Figuren. Weine übernehmen also die gleiche Aufgabe wie Schriftsteller. Das Medium schreibt die Message. Kein Wunder also, dass die Autoren an ihr alter ego in den Romanen zuletzt denken.
Was ist eine Weinrallye?
Einmal im Monat sind alle Wein- und Foodblogs aufgerufen, sich einen Tag lang einem (alle dem selben) vorher festgelegten Thema zu widmen. Heute war ein solcher Tag und das Thema der Weinrallye, wie sich dieser Onlineevent nennt, der heute zum 88. mal stattfand, lautet Wein und Prosa. Der Aufruf zur Weinrallye #88 kam von Victoria Mölich vom Blog Weinreich Rheinland-Pfalz, für den auch der Weinkaiser schon aktiv war.
Eine Übersicht aller bisherigen Weinrallye-Themen und Gastgeber gibt es übrigens hier: Weinkaiser.de/ehemalige-weinrallye-themen